Der offene Brief an den Präsidenten der Russischen Föderation W.W. Putin von den Mitgliedern der Russischen Akademie der Wissenschaften

An den Präsidenten der Russischen Föderation W.W. Putin

Sehr geehrter Wladimir Wladirowitsch!

Mit wachsender Sorge beobachten wir die zunehmende Klerikalisierung der russischen Gesellschaft und das aktive Eindringen der Kirche in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die Verfassung der Russischen Föderation ruft den weltlichen Charakter unseres Staates und das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat aus. Wir wenden uns mit diesem Brief an Sie als die oberste Amtsperson unseres Landes, die der Garant der Einhaltung der Grundlagen der Verfassung ist.

Im März dieses Jahres wurde in Moskau das XI. Weltkonzil des russischen Volkes veranstaltet. Unter seinen Beschlüssen verdient die Resolution „Über die Entwicklung des russischen Systems der Religionsbildung und Wissenschaft“ besondere Aufmerksamkeit. Der Titel scheint befremdlich. Wenn die Religionsbildung eine innere Angelegenheit der russisch-orthodoxen Kirche (ROK), wieso kümmert sich die Kirche dann um die Entwicklung der Wissenschaft? Aber braucht denn die Wissenschaft eine solche Sorge? Der folgende Text macht dann alles klar. In der Resolution wird vorgeschlagen, sich an die Regierung der Russischen Föderation mit einer Bitte zu wenden, “die Fachrichtung „Theologie“ in das Studienfachverzeichnis der Staatlichen Kommission für akademische Grade und Titel aufzunehmen. Die Theologie soll als selbständige wissenschaftliche Disziplin gelten”.

Was die Versuche des Eindringens der Theologie in die Staatliche Kommission für akademische Grade und Titel angeht, so datieren sie nicht erst von heute. Doch stand die Staatliche Kommission für akademische Grade und Titel früher unter großem Druck, der für die anderen freilich unsichtbar war. Nach dem Konzil wird dieser Druck nicht mehr verheimlicht. Aus welchem Grund, so muß man fragen, muss die Theologie – die Gesamtheit von religiösen Dogmen – denn zu den wissenschaftlichen Fächern gezählt werden? Jedes wissenschaftliches Fach operiert mit Tatsachen, Logik, Beweisen, aber durchaus nicht mit dem Glauben.

Nebenbei bemerkt, die katholische Kirche hat sich fast völlig von der Einmischung in die Angelegenheiten der Wissenschaft zurückgezogen (1992 hat sie ihren Fehler in der Sache Galileo Galileis eingesehen und ihn „rehabilitiert“). Während des Gesprächs mit dem Mitglied der Akademie W.I. Arnold (März 1998) hat Papst Johannes Paul II. anerkannt, dass nur die Wissenschaft die Wahrheit feststellen kann, aber die Religion hält sich nach seinen Worten bei der Interpretation der möglichen Applikation wissenschaftlicher Entdeckungen für kompetenter. Die ROK vertritt die andere Meinung:

„Der Dialog zwischen Macht und Gesellschaft ist nötig, damit das in der sowjetischen Zeit entstandene Monopol der materialistischen Weltanschauung im russischem Bildungssystem endlich aufgelöst werde“. (Aus der Resolution des Konzils).

Eigentlich gründen sich alle Errungenschaften der modernen Wissenschaft im Weltmaßstab auf der materialistischen Weltanschauung. Es gibt nichts anderes in der modernen Wissenschaft. Zu diesem Thema hat der berühmte amerikanische Physiker, Nobelpreisträger, S. Weinberg das Folgende gesagt:

„Die Erfahrung des Wissenschaftlers macht die Religion unwesentlich. Mehrere Wissenschaftler, die ich kenne, denken an die Religion überhaupt nicht. Sie denken über die Religion sowenig nach, dass man sie auch nicht zu den aktiven Atheisten zählen kann“. (New York Times, 23. August 2005).

Also, wogegen wird uns vorgeschlagen, „das Monopol der materialistischen Weltanschauung“ einzutauschen?

Aber sprechen wir wieder von der Staatlichen Kommission für akademische Grade und Titel. Das Eindringen der Kirche in den Staat ist eine deutliche Verletzung der Verfassung des Landes. Übrigens ist die Kirche schon in die Streitkräfte eingedrungen, werben die Massenmedien für religiöse Zeremonien des Besprengens des neuen Kampfgeräts mit Weihwasser (vom Stapel laufende Überwasserschiffe und U-Boote werden unbedingt besprengt, aber, leider, hilft das nicht immer). Religiöse Zeremonien unter Mitwirkung der einflußreichen Vertreter der Staatsmacht u.s.w. werden breit beleuchtet. Das sind Beispiele aktiver Klerikalisierung des Landes.

Die schon erwähnte Resolution des Konzils erhält noch eine inständige Bitte „die kulturologische Bedeutsamkeit des Unterrichts von Grundlagen der orthodoxen Kultur und Ethik in allen Schulen des Landes anzuerkennen und dieses Unterrichtsfach in das zuständige Ressort des föderalen Bildungsstandards einzutragen“.

Die Kirchenführer der ROK rufen die Regierung in allen Schulen Russlands auf, „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als obligatorisches Fach einzuführen. Man muss sagen, die Idee, die Religion in die Schulen des Landes in Umlauf zu bringen, wird schon lange bedacht. Im Rundschreiben von Alexij II. Nr. 5925 vom 9. Dezember 1999 an „alle Diözesen-Vorsteher“ wird betont, dass „wir die Aufgaben der geistlich-sittlichen Erziehung der zukünftigen Generationen Russlands nicht lösen, wenn wir keine Aufmerksamkeit auf das Staatsbildungssystem lenken“. Im Schlusswort dieses Dokuments steht folgendes:

“alls Schwierigkeiten mit dem Unterricht über die „Grundlagen der orthodoxen Glaubenslehre“ entstehen, soll der Kurs „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ genannt werden, was keine Beanstandungen bei Pädagogen und Direktoren der staatlichen Bildungseinrichtungen hervorrufen, die atheistisch erzogen sind”.

Aus diesem Zitat folgt, dass als „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ versucht werden soll, den Religionsunterricht einzuführen (wiederum unter Umgehung der Verfassung).

Selbst wenn wir annehmen, dass die Rede wirklich von einem Kurs über „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ ist, so wurde schon mehrfach gesagt, dass im multinationalen und multikonfessionellen Land einer solchen Kurs nicht eingeführt werden darf. Dennoch meint das Konzil, dass die Schüler in unserem Staat, wo die orthodoxe Bevölkerung die absolute Mehrheit bildet, „die Grundlagen der orthodoxen Kultur“ zu erlernen hätten. Zählt man alle Atheisten russischer Herkunft als Orthodoxe, so ergäben sie wahrscheinlich eine Mehrheit. Aber ohne Atheisten befänden sich die Orthodoxen leider in der Minderzahl. Doch darum geht es nicht. Es ist nicht denkbar, dass man sich so verächtlich zu anderen Konfessionen verhalten darf. Erinnert das Ganze nicht an einen orthodoxen Chauvinismus? Schließlich, es wäre besser für die Kirchenoberen, darüber nachzudenken, was die Folge solcher Politik wäre: Konsolidierung des Landes oder sein Zerfall?

In der Europäischen Gemeinschaft, wo die Zwietracht unter den verschiedenen Konfessionen schon ihr wahres Gesicht gezeigt hat, ist es deutlich geworden, dass in den Schulen ein Kurs zur Geschichte der wichtigsten monotheistischen Religionen eingeführt werden sollte. Der Hauptbeweis besteht darin, dass die Bekanntschaft mit der Geschichte und dem Kulturerbe anderer Konfessionen zur Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses unter den Vertretern verschiedener Nationalitäten und religiöser Ansichten beitragen würde. Niemandem kam hierbei der Gedanke, beispielsweise ein Schulfach „Grundlagen der katholischen Kultur“ einzuführen. Während der letzten Weihnachtslesungen der ROK hat der Minister für Bildung und Wissenschaft A. Fursenko mitgeteilt, dass die Arbeit an einem Lehrbuch zur „Geschichte der Weltreligionen“ abgeschlossen sei. Die orthodoxe Lobby ist der Mitteilung feindlich begegnet. Doch das Lehrbuch, das von Mitarbeitern des Instituts für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften verfasst wurde (es heißt „Die Religionen der Welt“ und ist für Schüler der 10. und 11. Klasse vorgesehen), ist äußerst ausgewogen und enthält ein Wissen, über das jeder, der sich für einen gebildeten Menschen hält, verfügen sollte.

Doch was haben wir heute? Vor einem Jahr hat die St. Petersburger Schülerin Mascha und ihr Vater das Gericht mit der Forderung angerufen, die Lehre von der Schöpfung des Menschen durch ein göttliches Wesen (Kreationismus) in den Biologie-Lehrplan der Schule anstatt des „veraltete und fehlerhaften“ Darwinismus aufzunehmen. Eine unsinnige Situation ist entstanden: Warum sollte ein Gericht entscheiden, ob die Evolutionstheorie, die behauptet, dass das Leben auf der Erde vor mehr als 3 Mrd. Jahren entstanden ist, wahr ist, oder die Schöpfungslehre, die im Unterschied zur Evolutionstheorie keinen einzigen Beweis erbringen kann und dennoch behauptet, dass das Leben auf der Erde seit einigen tausend Jahren existiert. Man sollte glauben, dass diese Frage nur in die Kompetenz der Wissenschaft gehört. Doch, wurden Mascha und ihr Vater vom Patriarchen Alexij II. unterstützt, der während der Weihnachtslesungen angemeldet hat:

„Keinen Schaden wird dem Schüler zugefügt, wenn er die biblische Lehre von der Entstehung der Welt kennt. Aber wenn jemand glauben will, dass er vom Affen stamme, so soll er das tun, ohne seine Meinung den anderen aufzuzwingen“.

Aber was wird geschehen, wenn wir alle Beweise vergessen, auch die elementare Logik, die letzten Reste des kritischen Denkens aufgeben, und in den Schulen zum Eintrichtern von Dogmen übergehen, was dann wohl auch keinen Schaden verursacht? Nebenbei, um alles klarzustellen, sowohl Darwin als auch seine Nachfolger behaupteten niemals, dass der Mensch vom Affen abstamme. Es wurde nur festgestellt, dass der Affe und der Mensch dieselben Vorfahren haben. Die Kirche hat Probleme nicht nur mit dem Darwinismus. Zum Beispiel, wie verhält sich die „biblische Lehre von der Entstehung der Welt“ zu den von der modernen Astrophysik und Kosmologie festgestellten Tatsachen? Also, was soll in den Schulen gelehrt und gelernt werden – diese Tatsachen oder die „biblische Lehre“ von der Entstehung der Welt in sieben Tagen?

An Gott glauben oder nicht glauben, ist die Sache des Gewissens und der Überzeugungen jedes einzelnen Menschen. Wir achten die Gefühle der Gläubigen und haben nicht die Absicht, gegen die Religion zu kämpfen. Doch wir können auch nicht gleichgültig bleiben, wenn versucht wird, wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel zu ziehen, die „materialistische Weltschauung“ aus der Bildung zu entfernen und das Wissen, das die Wissenschaft aufgespeichert hat, durch Glauben zu ersetzen. Man darf nicht vergessen, dass der vom Staat proklamierte Kurs zur Innovationsentwicklung nur dann verwirklicht werden kann, wenn Schulen und Universitäten die jungen Menschen mit Kenntnissen ausrüsten, die die moderne Wissenschaft erreicht hat. Es gibt keine Alternative zu diesen Kenntnissen.

Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften
E. ALEXANDROW
Sch. ALFJOROW
G. ABELEW
L. BARKOW
A. WOROBJOW
W. GINSBURG
S. INGE-WETSCHTOMOW
E. KRUGLJAKOW
M. SADOWSKY
A. TSCHEREPASCHTSCHUK

Veröffentlicht in der Populärwissenschaftlichen Beilage „Kentawr [Zentaur]“ Nr. 3 zu „Nowaja gaseta [Neue Zeitung]“. S. 1–2.

Aus dem Russischen von Anna Leontjewa, Nowosibirsk
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